1. Mai in Kreuzberg
Alles nahm, wenn man denn so will, 1886 seinen Anfang, als sich in Teilen Nordamerikas der zuvor von der Arbeitbewegung ausgerufene Generalstreik zur Durchsetzung des 8-Stunden-Tags vollzog. In Chicago trug es sich zu, dass damals schon, wie auch heute bisweilen, eine Massenversammlung außer Kontrolle geriet. Nur nicht am 1. Mai, sondern am 3. Mai nach einem mehrtägigen Streik. Am nächsten Tag eskalierte eine weitere Kundgebung und in der Folge kam es zu Toten aufseiten der Polizei und der Demonstranten. Die Justiz klagte die acht Organisatoren der Kundgebung an, unter anderem den Chefredakteur und Herausgeber des “Arbeiter-Magazins” August Spies. Vier von ihnen, auch Spies, wurden zum Tod durch den Strick verurteilt. Vor seinem Tod am Galgen rief Spies “The day will come when our silence will be more powerful than the voices you strangle today.” Und in gewisser Weise sollte er Recht behalten, Texas ausgenommen. Sein Urteil und das der weiteren Mitangeklagten wurde schließlich auch 1893 vom Gouverneur von Illinois annuliert. Zu ihrer Gedenken wurde 1889, im Rahmen der Neugründung der Internationalen nach Marx'schem Vorbild, der 1. Mai zum “Kampftag der Arbeiterbewegung” erklärt und als solcher zum ersten Mal 1890 begangen (Wikipedia berichtete).
In Deutschland wurde unter den Nazis der 1. Mai schließlich umfunktioniert, zum “Feiertag der nationalen Arbeit” und dadurch auch ein gesetzlicher Feiertag, was die Nazis nicht davon abhielt gleichzeitig auf drastische Weise und ohne Skrupel die Gewerkschaften zu zerschlagen.
Nun ja, diese Entwicklungen angefangen bei Marx, Mehreren Toten im Chicago des späten 19. Jahrhunderts und gar unter den Nazis fortgeführt zeitigten also in Deutschland und ganz konkret für mich am 1. Mai 2014 den “Ersten Mai in Kreuzberg”. Auch hier hilft der Digitalzeitalmanach Wikipedia eine Kurzübersicht zu gewinnen:
Der Erste Mai in Kreuzberg bezeichnet die durch linke und linksradikale Gruppen organisierten Straßenfeste und Demonstrationen am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, in Berlin-Kreuzberg. Speziell bezieht sich der Begriff auf den 1. Mai 1987, als in Kreuzberg bis dahin ungekannte schwere Unruhen ausbrachen und sich die Berliner Polizei für mehrere Stunden vollständig aus […] dem östlichen Teil Kreuzbergs zurückziehen musste. Seitdem führen Autonome und Antifa-Gruppen fast jedes Jahr eine oder mehrere sogenannte Revolutionäre 1.-Mai-Demonstrationen durch.
-Wikipedia
Ich beschloss also mir das ganze - gemeint ist die 18-Uhr-Demo in Kreuzberg - einmal genauer anzusehen. Insbesondere reizte mich das eigene mediengeprägte Bild dieser Kundgebung und in der Konsequenz die Berichterstattung der Medien, die meistens auf die Ausschreitungen reduziert wird, einmal einem Realitätsabgleich zu unterziehen. “Ist es denn wirklich alles so schlimm?” war also, die - zugegeben - etwas naive Fragestellung mit der ich an die Sache herantrat. Inhaltliche Punkte gehen, so ist mein Eindruck im Tumult und in den Ausschreitungen zumeist vollkommen unter. Irgendwelche linke bis linksradikale Forderungen sind die Oberbegriffe, unter die ich diese Veranstaltung in den letzten Jahren einordnete, wenn sie denn einmal in den Medien auftauchte. Leider bleibt hier der Inhalt, die Botschaft der Demo, - so ist mein Eindruck - hinter der Form zurück. Doch es gibt auch nicht immer übereinstimmende, wenngleich doch dezidiert-inhaltliche Forderungen der Demonstranten oder zum Mindestens der Organisatoren. So hieß es in einer Mail der Berliner Jusos zur 18-Uhr-Demo:
[…]01. Mai 18 Uhr: UNSERE Zukunft statt IHRER Profite - Jugendblock auf der 18 Uhr DemoUnter diesem Titel wird es auf der diesjährigen Revolutionären 18 Uhr Demo einen Jugendblock geben. Gemeinsam mit Gewerkschafts- und Antifajugenden wollen wir hier die Situation der Auszubildenden thematisieren. Nicht nur die fehlenden Ausbildungs- und Studiumsplätze, auch die prekären Bedingungen nach dem Abschluss, durch schlechte/unbezahlte Praktika, Volontariate und Traineestellen, sowie keine Übernahme durch die Ausbildungsbetriebe berauben junger Menschen der Basis für eine gesicherte Zukunft. Gleichzeitig generiert sich die Bundeswehr an Schulen und auf Ausbildungsmessen als ein Ausbildungsbetrieb mit guten Zukunftschancen und trägt so zu einer Militarisierung der Gesellschaft bei. Für uns gilt: Ausbildungssituation verbesser! Bundeswehr raus aus Schulen!Bitte bringt keine Jusofahnen mit, seid einfach mit uns zusammen präsent und unterstützt den Jugebdblock. In den letzten Jahren wurde die Demo oft vor dem Erreichen des eigentlichen Ziels aufgelöst. Bitte stellt euch darauf ein, dass das auch dieses Jahr passieren kann. Der Jugendblock wird als letzter Block in der Demo laufen. Sollte sich daher abzeichnen, dass es zu Auseinandersetzungen kommt, oder die Demo aufgelöst wird, besteht frühzeitig die Möglichkeit problemlos zu gehen.Den gesamten Aufruf findet ihr hier: http://erstermai.nostate.net/wordpress/?p=559Wir treffen uns um 18 Uhr am Lausitzer Platze Ecke Skalitzer Straße (vor dem Hühnerhaus 36).Ansprechpartnerinnen für euch sind Anna (0151 […]) und Lea (0151 […])Auf einen kämpferischen 1. Mai!
Sozialistische Grüße,der Landesvorstand der Jusos Berlin
Früh genug mache ich mich also am Abend des ersten Mais mit einigen Mitstreitern auf zum U-Bahnhof “Görlitzer Bahnhof”, wo der Demonstrationszug seinen Anfang nimmt. Auf dem Hinweg sind in umittelbarer Nähe zum Demozug bereits die überfüllten S- und U-Bahn-Stationen bemerkbar. Noch bemerkenswerter ist die Ansage, die wir an der “U Warschauer Straße” zu hören bekommen: “Junger Mann, bitte stellen sie das urinieren auf dem Bahnsteig ein!”. Anscheinend blicken ein paar BVG-Mitarbeiter mit Argusaugen auf die Monitore mit den Bildern der Überwachungskamera und versuchen - Oh Wunder! - doch tatsächlich die BVG-Regeln durchzusetzen. Sogar Raucher auf den Bahnsteigen werden durch wirsche Lautsprecherdurchsagen angeherrscht, dies doch zu unterlassen. Warum nicht öfter so? Da hat der 1. Mai also schon mal einen positiven Effekt. Dies passiert an normalen Tagen sonst nicht bis nie, da kann man schon mal ewig und drei Tage warten, bis ein BVG-Beamter auf die Idee kommt, dass es ja ein Rauchverbot gibt.
Angekommen bietet sich dem Betrachter erst einmal ein konfuses Wimmelbild aus tausenden Menschen in verschiedensten Kleidungsstilen, Zuständen und Stimmungen. In der Luft liegt eine kirmesartige, ausgelassene, positive Atmosphäre. Auch wenn ich mehr Menschen erwartet hatte: Es ist verdammt voll. Der Zug ist bereits im Gange. Noch auffälliger als das bengalische Feuer, das einige Demonstranten entzünden sind nur die unzähligen Polizeitransporter, die bereitstehen, um sich dem Ende der Demo anzuschließen. Weil der Zug schon deutlich weiter ist, gehen wir etwas schneller, um zum Anfang der Demo zu gelangen. Auf dem Weg dorthin passieren wir verschiedene Blöcke im Demonstrationszug. Manche beschränken sich aufs “An-ti! An-ti! An-tikapita-lis-ta!” skandieren, andere beschallen ihre Umgebung mit linksalternativem Rap und wieder andere üben fundierte politische Kritik aus Lautsprecherwagen. Der Demonstrationszug endet planmäßig vor der SPD-Parteizentrale, was eine Sprecherin aufgreift, um etwa die Hartz-IV-Gesetze anzuprangern und der SPD Raubbau am Sozialstaat vorzuwerfen.
Auffällig sind auch die schwarzen Blöcke, nein hierbei handelt es sich nicht um eine rassistische Auslassung meinerseits, sondern um Gruppierungen von komplett in schwarz gekleideten Demonstranten. Auch sonst fallen mir Menschen mit schwarzen Cargo-Pants und schwarzen Pullis und Kapuzenanoraks auf. Das sind die Menschen, die in den Medien zurecht (?) mit dem Stigma Autonome versehen werden. Unwillkürlich rücken sie die Szenerie in ein düstereres Licht, ganz als ob kommende Ausschreitungen ihre lange Schatten vorauswerfen.
Insgesamt herrscht aber - wie gesagt geschrieben - eher Jahrmarktsstimmung, in Cafés und Bars wird laut Musik gespielt, Menschen tanzen angeheitert auf Tischen, trinken, sind betrunken, sind volltrunken und urinieren an Hausfassaden. Kurz es herrscht keine angespannte oder gar womöglich aggressive Atmosphäre. Dieser Eindruck wird von den friedlichen Menschen und Demonstranten aus allen Altersgruppen und auch von Eltern, die mit ihren Kindern unterwegs sind, bekräftigt. Wie nachzulesen ist, gehört dies zum Sicherheitskonzept der Polizei: Alternative Veranstaltungen, wie das sogenannte MyFest! werden gefördert, um die Umgebung mit friedlichen Menschen zu besetzen und Aggressionen dadurch im Keim zu ersticken. Auch sonst fährt die Polizei teilweise recht kluge Strategien. So setzt sie etwa das Flaschenverbot im Görlitzer Park mit Köpfchen durch: Polizisten halten Plastikbecher bereit, in die man den Inhalt seiner Flasche umfüllen kann. Aber ich schweife wieder ab!
In der Mitte des Demonstrationszuges entdeckt mein Mitbewohner Hans Christian Ströbele, der - sein Fahrrad schiebend - die Demonstration begleitet. Als linkes Urgestein der Grünen und als direktgewählter Abgeordneter für Friedrichshain-Kreuzberg muss er sich natürlich hier blicken lassen. Ihn sollten wir später noch einmal treffen. Ich bin mir nicht ganz sicher in wie weit er seine Aufgabe auch als Schutzfunktion bei unverhältnismässiger Polizeigewalt sieht. Als Abgeordneter hat er gegenüber der Polizei eine gewisse Autorität und weitreichende Auskunftsrechte. Dass wir ihn später wiedersahen, als er direkt am U-Bahnhof Hallesches Tor die zu eskalieren drohende, sehr angespannte Situation besah und dort hinging, wo es weh tat, gibt dieser Theorie recht. Der Polizeieinsatz selbst wurde vom Berliner Senat, genauer dem Innensenator verantwortlich organisiert.
Auch von hinten sollte Ströbele im nachfolgenden Bild zu erkennen sein:
Das Vorgehen der Polizei war äußerst bemerkenswert. Das Sicherheitskonzept der Polizei ließ die Befürchtung einer erwarteten Straßenschlacht aufkommen. Es konnte der Eindruck entstehen, man befände sich, eingekesselt von Polizei, in einer Sperrzone. Auf den Dächern von hohen Gebäuden waren Späher mit Ferngläsern zu gewahren, die den Demonstrationszug von oben herab überwachten beobachteten. Es ist unwahrscheinlich, dass diese bewaffnet waren. Jedenfalls waren keine Sniper, wie beim Besuch Obamas postiert. Der öfters zu hörende Helikopter leistete wahrscheinlich sein übriges zur Überwachung der Demonstration.
Der Demonstrationszug wurde am Ende durch die knapp 10 Mannschaftswagen der Polizeihundertschaften und die vorrausfahrenden Polizeimannschaftswagen und Polizeifahrzeuge in der die Einsatzkoordination stattfand eingekesselt. Zusätzlich stand an jeder Abzweigung von der Demoroute entweder eine Barrikade aus Mannschaftswagen oder Hundertschaften der Polizei. Zeitweise wurde die Demo auch von Polizisten flankiert. Die Diskrepanz zwischen friedlicher Stimmung und diesem Aufgebot der Staatsmacht war zu diesem Zeitpunkt noch eher unverständlich.
Als wir, um an der zähfließenden Masse schneller vorbeizukommen, in eine Parallelstraße abbiegen, staunen wir nicht schlecht: Wir sehen uns einer Legion von Polizisten in Vollschutzmontur gegenüber. Nie zuvor habe ich ein derartiges Bild geboten bekommen. Polizisten von beachtlicher Statur und mit noch beachtlicherer Schutzkleidung. Alles Männer zwischen 20 und 30. Alle riesig. Alle “biodeutsch”. Alle mit Knopf im Ohr, Helm, Handschuhen und Pfefferspray ausgerüstet. Diese Unformität, diese Masse an ähnlichen Menschen, selektiert nach einem Kriterium: Fähigkeit zur Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols zur Durchsetzung der Staatsmacht. Es hat etwas beängstigendes und beruhigendes und irgendwie beeindruckendes zugleich. Was unser aller Staat doch für Strukturen und Werkzeuge aufzubauen vermag, um die Wahrung von Recht und Ordnung zu gewährleisten. Das einmal so konkret zu sehen und damit konfrontiert zu werden ist doch etwas ganz anderes als irgendwelche Schemata mit Exekutive, Legislative etc. zu analysieren. Brichst du das Gesetz, brech ich dir die Beine - so könnte man es zugespitzt umschreiben.
Aber ich schweife ab! Durch unseren Abstecher in die Seitenstraße konnten wir einen unverhofften Blick hinter die Kulissen der Polizeitaktik werfen. Weil die Anzahl der Einsatzkräfte - der üppigen Anzahl zum Trotz - wohl doch nicht reichte, um an jeder Kreuzung und Abbiegung Hunderschaften zu postieren, liefen die Polizisten, nach dem Passieren des Demonstrationszugs, zur nächsten Kreuzung, um diese zu blockieren. In ihren Uniformen, ihren Panzern haben verlieren die Polizisten nach Außen ein Stück ihrer Menschlichkeit. Da manche keine Helme haben, ist zumindest noch das Gesicht zu erkennen. Dennoch schweben einem die Bilder von Polizeigewalt bei Demonstration im Kopf herum. In nähe der Polizisten verhält man sich anders. Es fühlt sich unfrei an. Man steht unter Beobachtung. Diese mittelbare, sehr subtile Beschneidung der Demonstrationsfreiheit mag ihre Berechtigung haben, dennoch darf man diesen Effekt nicht ausser Acht lassen.
Am Anfang des Demozugs angekommen, bleiben wir stehen und beobachten den vorbeiziehenden Zug in seiner ganzen Länge. Berichtenswert ist der Umstand, dass ein flinker Mittzwanziger in schwarzer Kleidung - natürlich - sich bemüßigt fühlte jegliches am Straßenrand angebrachte Wahlplakat zu entfernen. “Das finde ich richtig cool!” ist die Bewertung der Sprecherin in einem der Demowagen.
Eine besondere Spezies von mit dieser Demo verbunden Menschen fällt auch noch auf, der sogenannte Aufstandsjournalist. Er tut sich durch seine Montur bestehend aus Helm mit GoPro-Camera, festes Schuhwerk, wasserwerferfester Kleidung und Schutzbrille in Griffweite hervor. So sehen wir etwa einen Repräsentanten dieser Gattung, der auf seinem Schutzhelm den Schriftzug RIOTPRESS trägt. Angesprochen auf seine Tätigkeit, erklärt Mr. Riotpress, dass er einen Youtube-Kanal unter selbigem Namen betreibt. Einer muss das alles ja schließlich dokumentieren. Nicht das adrenalinärmste Hobby, genau das richtige für jeden “thrillseeker”, dem nur dabei sein nicht genug ist.
Nun nehme ich auch zum ersten Mal das teilweise vorhandene und sich an Polizisten entladende Gewaltpotenzial wahr. Eine der die Demo flankierenden Hundertschaften zieht an mir vorbei und es sticht einem sofort ins Auge, dass manchen Polizisten ein “Autonomer” folgt (Ohne Alle die in diese Kategorie gezählt werden, stigmatisieren zu wollen. Es sind höchstens eine Hand voll. In Ermangelung eines anderen Labels, nenne ich sie aufgrund ihrer Kleidung Autonome, was der Sache nicht gerecht wird, aber der Einfachheit halber so gehandhabt wird.). Diese Autonome folgen, dicht an ihnen gedrängt, den Polizisten und beschimpfen sie auf schäbigste Art und Weise. In ihren Worten und Äußerungen liegen in Inhalt und Tonalität so viel Hass und Menschenverachtung, dass ich erstaunt bin, dass die Polizisten nach außen ruhig bleiben und nicht tätlich aktiv werden. Nein, mehr noch, die Polizisten antworten nicht einmal auf Schmähungen, wie: “Wir wollen euch nicht!”, “Haut ab! Haut ab! Haut ab!”, “Ihr seid hier unerwünscht!”. Später traf wir noch auf einen solchen auf Krawall aus seienden Menschen, der vor einem Polizisten, der zwei Köpfe größer war, stand und ihn aufs übelste mit herabsetztenden Äusserungen bedachte: “Wer hat euch denn eigentlich eingeladen? Was macht ihr hier? Ich verdiene 80.000 im Jahr. Ich bin selbstständig, ich bezahl dich doch!”. Der Polizist ließ sich auf dieses nur zu verlierende Spiel ein und antwortete auch noch zähneknirschend.
Den Agressor, der den Polizist hier so anging, und sein Gehalt noch auf prahlerische Weise ins Spiel brachte, genauer zu charakterisieren fällt schwer. Es ist aber leichter, als bei den anderen, da wir den Mann nach der Demo zufällig trafen und auf seine ehrenrührige Worte ansprachen. Wie sich herausstellte, war er anscheinend Kälteanlagenbaumeister und beschäftigte mehrere Angestellte. Dennoch machte er einen schizophrenen Eindruck. Auf der einen Seite lenkte er ein, dass seinen verbalen Attacken gegen den Polizisten zu weit gingen, aber auf der anderen Seite schrie er - kurz nachdem er dies zugestand - wieder vorbeilaufende Polizisten an. Dann wurde es völlig abstrus, als er sich in Hasstiraden auf die Polizei erging, wobei offenbar eine entscheidende Rolle spielte, dass er seinen Führerschein abgeben musste. Hier schien jemand den 1. Mai als Ventil für seine im voranggeganen Jahr angehäufte privaten Frustrationen zu nutzen. Sein Vorgehen rechtfertigte er vor uns und sich selbst anscheinend damit, dass die Polizisten niemand eingeladen habe, dass er sie bezahle und dass sie ihm schonmal Unannehmlichkeiten bereitet hatten. Nachdem er sich empfahl, nicht ohne meinen Mitbewohner aufgrund seiner konservativen Positionen als Faschisten zu bezeichnen, atmeten wir sichtlich auf. Es war einer der unangenehmeren Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, auch wenn sich sein Hass nicht gegen mich richtete, war er doch so stumpfsinnig und unzivilisiert, dass ich mich nur wundern konnte, wie so ein Mensch einen Betrieb zu führen vermag. Vielleicht ja grade deswegen. Nach dem 1. Mai ist er womöglich brav wie ein Lamm und freut sich als Antikapitalist über seine 80.000 Euro im Jahr.
Die Situation war bis jetzt insgesamt ziemlich ruhig geblieben. Doch nach dem ofiziellen Ende der Demo vor der SPD-Parteizentrale nahe der U-Bahnstation Hallesches Tor kam es doch zu einer Fast-Eskalation, so muss man es nennen. Die Situation war die folgende. Anscheinend hatte sich eine Reihe Autonomer am U-Bahnsteig versammelt und aus irgendeinem Grund hielt die Polizei es für opportun diesen zu stürmen. In Medienberichten wurde eine Überfüllung des U-Bahnsteiges nach einer Notbremsung der U-Bahn als Grund genannt. Es rannte also eine Hundertschaft beherzt auf den Bahnsteig und hielt sich dort auf. Autonome, die dies nicht guthießen schrien in einem markerschütterndem Ton und einer für mich bis dahin ubbekannten Agression Parolen, wie: “Haut ab! Haut ab!” oder auch “Ganz Berlin hasst, hasst, hasst die Polizei!”. Darüber hinaus kam es auch zu Rangeleien mit Polizisten. Einige wurden verhaftet. Wir konnten all dies vom gegenüberliegenden Bahnsteig beobachten. Das Getöse war ohrenbetäubend. Viele Menschen in der U-Bahn hatten sichtlich Angst, weil sie sich mit dem Polizeihass so gar nicht identifizieren konnten, aber im Wagen eingeschlossen waren. In der Bahn sitzen die meisten regungslos und geben sich ihrem Schicksal hin. Eine junge Frau fasst sich an den Kopf und schüttelt - den Tränen nahe - fassungslos ihren Kopf. Andere öffnen die Türen der U-Bahn auf der Gleisseite, um zummindest etwas frische Luft zu erhaschen.
Auch auf unserer Gleisseite kommt es zu Unruhe als drei Autonome BVG-Sicherheitsbeamte anpöbeln. Einem von ihnen schaut ein Luftgewehr aus dem Rucksack. Ebenfalls ist eine Zwille ersichtlich, die aus dessen Rucksack hervorlugt. Irgendwann wird es den BVG-Beamten zu viel und sie verständigen ein paar Polizisten. Diese lassen die drei Unruhestifter jedoch wieder laufen. Die BVG-Sicherheitsbeamten sind sichtlich mit der Situation überfordert. Auf der anderen Seite, so erzählen nacher Augenzeugen, nahm die Polizei jeden fest, der der Aufforderung den Bahnsteig zu verlassen nicht nachkam. Während Polizisten die Festgenommenen abführen, fragen andere Demonstranten nach den Namen und dem Geburtsdatum der Festgenommenen, um einen Anwalt für sie zu organisieren, der sie möglichst schnell wieder auf freien Fuß bringt.
Alles in allem ist der 1. Mai (bzw. die 18-Uhr-Demo) eine leider an ihrer Entpolitisierung krankende Veranstaltung, die als weitergedachte Linie die von den für bessere Bedingungen protestierenden Arbeiter nicht mehr viel hat. Wobei es natürlich sein kann, das es sich ehedem im 19. Jahrhundert nicht viel anders zutrug. In Form einer solchen Masse differenzierte politische Forderungen zu äussern ist dann womöglich doch ein Ding der Unmöglichkeit. Teil davon waren sicherlich, die Leute, die Flyer verteilten zur Blockierung von Hausräumungen, die Demowagen, die konkrete Kritik äusserten und alle, die sich friedlich in einem Demoblock einordneten und damit Unterstützung für dessen Forderungen zeigten.
Die mediale Berichterstattung im Nachgang war erwartbarerweise reduziert auf die Auseinandersetzungen, erwähnt wurde aber meist auch, dass es insgesamt doch friedlich zuging. So berichtete der RBB äusserst differenziert und lieferte ein nach meiner Sicht realistisches Bild der Lage, welches sich mit meinen Beobachtungen deckt.
Die Süddeutsche erwähnte Kreuzberg immerhin in einem Absatz:
Auch bei der Mai-Demonstration in Berlin kam es zu Ausschreitungen, schwere Gewaltausbrüche wie in früheren Jahren gab es jedoch nicht.19 000 Menschen zogen nach Angaben der Polizei mit Transparenten und lauten Sprechchören durch Kreuzberg - weit mehr als ursprünglich erwartet. Wiederholt griffen Demonstranten Einsatzkräfte an. Böller wurden gezündet, Steine, Flaschen und Farbbeutel flogen.
Dennoch zeigte sich die Polizei weitgehend zufrieden, sie war mit einem Großaufgebot im Einsatz. Die “Revolutionäre 1. Mai-Demonstration” endete nach knapp zwei Stunden vor der abgesperrten Zentrale der Bundes-SPD.
Danach kam es noch stundenlang zu Rangeleien in Kreuzberg. Polizisten setzten etwa am U-Bahnhof Hallesches Tor Reizgas ein. Wie ein Polizeisprecher sagte, wurden dort fünf Beamte verletzt.
Die Autorin der Welt stichelt unter dem Titel “In Kreuzberg brennen nur die Kohlen am Köfte-Grill”:
Das linksradikale Kreuzberg hat sich selbst besiegt. Am 1. Mai brennen dort keine Barrikaden, sondern nur die Kohlen am Köfte-Grill. Der Maifeiertag ist zu einer sozialdemokratischen Party geworden
Hier noch einige audiovisuelle Eindrücke: