Indien oder jedenfalls ein winziger Teil davon
Größte Demokratie der Welt, Schwellenland, G20, Kolonialherrschaft, Ghandi. Man verbindet viele Begriffe mit Indien. Doch dass diese letztlich nur ein schwaches Schlaglicht auf das in jeder Hinsicht enorme Land werfen, ist klar. Wie der Zufall es will, hat es mich unlängst für 7 Tage nach Indien verschlagen. Nein, ich habe nicht in einem Radiogewinnspiel gewonnen, aber es spielte sich in etwa ähnlich ab. Hauptgrund der Reise war der Flugpreis von 200 Euro, da es sich um eine sogenannte Errorfare handelte. Also keine hochtrabenden Weltendeckerambitionen, Selbstfindungsfantasien oder ungestüme Abenteuerlust – schlicht schnöde weltlicher Ökonomismus. Daher folgt eine kleine Abhandlung über Indien in 7 Tagen.
Ohne allzu viel Vorbereitung – positiver Formuliert könnte man auch ohne Voreingenommenheit sagen – ging es daher eines Freitags los. Im Vorhinein habe ich mir zugegeben wahrlich nicht allzu viele Gedanken gemacht, lediglich ein kleines, aber feines Buch von Bernard Imhasly mit dem naheliegenden Titel Indien diente der Vorbereitung. Indiens Geschichte ist eine komplexe Materie. So war ich etwas überrascht und irgendwie doch auch nicht, dass laut Autor das Land Indien eine Illusion sei. Vielmehr handelt es sich bei Indien um eine Vielzahl von Völkern, die wie so häufig in der früheren Geschichte einmal von ihren Kolonialherren zusammengelegt wurden. Nachdem aber die Selbstständigkeit Indiens etabliert wurde – Ghandi, wir erinnern uns – schlug sich dies nicht nur in der Abspaltung Pakistans, sondern auch in einer im hohen Maße föderalen Staatsstruktur nieder. Noch heute gibt es Probleme mit SIM-Karten, wenn man den Bundesstaat wechselt. Aber wir wollen uns nicht zu lange mit profanen Fakten beschäftigen. Es folgt nun viel der erste Akt “Ankunft in Mumbai”:
Schon beim Anflug auf Mumbai fallen dem aufmerksamen Beobachter, wie auch dem artverwandten unaufmerksamen Beobachter, die bis direkt an die Landebahn angrenzenden Hütten auf. “Nanu” wundert sich der Westler, jetzt offenbart diese Stadt einem schon Slumdog-Millionaire-Anspielungen und denkt an romantische Slum-Eintracht und das ewig währende Märchen vom Aufstiegskampf. Bin ich jetzt überhaupt darauf vorbereitet? Will ich das alles nicht erst einmal aus der Ferne und wenn überhaupt dann am letzten Tag sehen? Aber so ist Mumbai nicht, ohne falsche Zurückhaltung schleudert es dem Besucher ab Tag Eins alles entgegen, was es aufzubieten vermag – und das ist viel. Romantische Anwandlungen verfliegen schnell. Man sieht allenthalben, dass Indien ein Schwellenland ist. Die Wellblechhütte grenzt direkt an Prachtbauten, Familien schlafen auf der Straße, während andere sich im nicht unwerten Rolex-Store verlustieren. Das ist vor allem einmal eine große Reizüberflutung, der Verkehr ist aberwitzig. Schnell muss man lernen seinen Weg durch das Chaos zu finden. Die ersten Tage ist jeder Wechsel der Straßenseite eine kleine Mutprobe. Während man selbst mit sich hadert, zetert und zaudert, geht der Inder lässig ohne großes überlegen durch den Verkehr, den Autofahrern die Handinnenfläche entgegenstreckend. Solche Szenen haben fast eine mystische Komponente, so wie ehedem Jesus das Meer teilte, teilt nun Sunjai den Verkehr. Toll denke ich, während ich dem indischen Jesus hinterhereile. Auch eine neue Spielregel, die ich verinnerlichen musste, war die Tatsache, dass im indischen Straßenverkehr die Hupe eher wie ein Martinshorn genutzt wird. Dies resultiert natürlich in ein fortwährendes, dysharmonisches Hupkonzert. Sieht man Fußgänger vor sich, überholt man ein anderes Fahrzeug, kündigt man sich mit einem kurzen Hupton an. Dies scheint auch relativ gut zu funktionieren, jedenfalls habe ich keinen einzigen Unfall miterlebt, obwohl der chaotische Verkehr die ständige Erwartung eines Unglücks forciert.
Aber auch das Zugfahren unterscheidet sich nicht unbeträchtlich von der gewohnten europäischen Art. Es fängt damit an, dass in Zügen die Türen prinzipiell offen bleiben. Das was das Zugfahren prinzipiell erst einmal auch angenehmer gestalten kann – je nach Mut kann man sich mehr oder weniger weit aus der Tür lehnen – deckt natürlich auch ein diametrales Sicherheitsdenken auf. Bauarbeiter, welche barfüßig mit schwerem Gerät arbeiten, Leute die auf dem Gleisbett gehen, abenteuerliche Baukonstruktionen: Vielerorts schüttelt man als jemand, der westlich sozialisiert wurde erschrocken den Kopf. Mumbai ist eine extrem dicht besiedelte Stadt, was dazu führt, dass die kleinen Hütten in jede freie Stelle gebaut werden. Teilweise unter Bahnbrücken, ineinander verschachtelt und auch übereinander gestapelt. An einer S-Bahn-Haltestelle sehe ich eine Hütte, die halb Zelt, halb Hütte ist. Fast erinnert es ein wenig an eine Unterkunft in einem Freizeitcamp. Doch man darf sich nicht täuschen, natürlich ist dies schlicht auch eine Folge der bitteren Armut. Viele Hütten haben zwar Strom – woher ist eine andere Frage – ihnen fehlt es jedoch an Zugang zu Kanalisation und Wasserversorgung. Grade die Kinder mit Müttern, die auf offener Straße schlafen sind ein bedrückendes Bild, welches sich ins Gedächtnis brennt. Auch die kleinen Mädchen, welche am Bahnhof Essen verkaufen und Männer, Frauen, Greise mit Behinderungen, welche am Bahnhof sitzen, liegen, betteln lassen einen tiefen Eindruck zurück. Ich habe mich geschämt für meinen Reichtum, für den Reichtum den die entwickelte Welt hat während es hier Menschen so elendig schlecht geht. Da stellt sich einem schon die Frage, mit welcher moralischen Begründung wir diesen Menschen unseren Lebensstandard vorenthalten und ob unser Lebensstandard überhaupt möglich wäre, wenn er hier ebenso vorherrschte. Ich habe keine zufriedenstellende gefunden.
Die ersten Tage kommen wir zeitgemäß via AirBnB in einem kleinen, feinen Appartement im zentralen Stadtteil Colaba unter. Die Wohnung gehört einer Inderin, welche aber erzählt, dass sie die meiste Zeit in Großbritannien lebt, weil sie es in Indien nicht lange aushält. Als ich Abends sichtlich von Mumbai überfordert in die Wohnung komme, schwärmt sie von Dänemark (“Everything just works. It’s so clean!”) und berichtet auch von London (“It’s also a bit dirty. I prefer Kopenhagen.”). Außerdem ist sie seit 10 Jahren in Mumbai nicht mehr mit dem Zug gefahren, weil es ihr zu eng und chaotisch ist. Ich fühle mich verstanden, als ich dann jedoch erfahre, dass sie mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung diagnostiziert ist, schlägt das Verbundenheitsgefühl in leichte Selbstzweifel um. Aha, deshalb ist ihre Wohnung so sauber! Man fühlt sich ein wenig fehlplatziert in der keimfreien, katalogreifen Wohnung. Auch allgemein ist es ein Phänomen, dass in Indien die Innenräume penibel sauber gehalten werden. Man würde fast meinen, dass ein Kausalzusammenhang zwischen diesem Umstand und dem Dreck auf der Straße besteht. Wer seine Wohnung so sauber hält, kann das ja nicht auch noch für die Straße ebenso sicherstellen. Das obig erwähnte Indienbüchlein bemerkt hierzu, dass dies auch religiöse Gründe habe. Die Natur werde nicht wie etwa im Christentum als zu bewahrende Schöpfung gesehen, sondern vielmehr als etwas, dass in der Hand der Götter liegt. Exemplarisch wird hierfür ist der Ganges angeführt, der schon einige erfolglose Reinigungsvorhaben hinter sich hat, die am fehlenden Rückhalt und Bewusstsein scheiterten.
Die Küche in Mumbai ist vegetarisch dominiert und sehr herzhaft und außerordentlich soßenreich. Mal abgesehen von den studentenfreundlichen Preisen – wir haben selbst in teureren Lokalitäten nie mehr als 10 Euro p.P. gezahlt – zeichnet sie sich durch ihre reichhaltige Vielfalt aus. Oft kommt ein Gericht sekundiert von einem Pulk an Soßen und Beilagen, sodass man als simpler Amateuresser oft bereits von Anfang an als Verlierer in die Schlacht zieht. Spätestens bei dem Menü inklusive Bathura-Flatrate ist eine Grenze des Möglichen überschritten. Auch im Restaurant findet sich die omnipräsente Spiritualität wieder, wenn sich plötzlich müde Rauchschwaden behäbig durch das Lokal walzen und in gravitätischem Ernst einer der vielen Gottheiten huldigen. Fast gleicht es dem Vorgang des Insektizidversprühens bei der Ein- und Ausreise in der Passagierkabine. Da heißt es man müsse Vorschriften beachten, vielleicht ja auch nur ein Opfer für die Götter, damit der Flug unter der Ägide Krishnas kein jähes Ende findet. Kurz gesagt, wer nach Indien reist, wird nicht verhungern.
to be continued….
TL;DR
Indien erscheint Europäern sehr laut und chaotisch.