Nach dem Tag in Bethlehem und in Hebron, geht es nun von Jerusalem aus weiter nach Ramallah, der de facto Hauptstadt der palästinensischen Autonomiegebiete. Ich bin gespannt, wie es dort genau sein wird. Denn Ramallah soll das kulturelle und intellektuelle Zentrum der Westbank sein. Wir nehmen einen Bus der arabischen Buslinie “Egged”, die auch am Freitag fährt. Ja, in der Tat ist es so, dass es einen Unterschied macht, ob man mit einer “jüdischen oder arabischen Buslinie” fährt. Allein diese Rubriken erscheinen mir im Bezug auf Unternehmen so absurd, dass ich sie vorsichtshalber in Anführungszeichen gesetzt habe. Die Fahrt kostet grade einmal zwei Euro und dauert etwa eine Stunde. Wie schon zuvor stelle ich fest, dass die Grenzüberquerung in die Westbank erstaunlich einfach und ohne jegliches Hindernis möglich ist.

Über Couchsurfing konnte ich eine gleichaltrige Palästinenserin dafür gewinnen, ein wenig von ihrer Stadt und ihrem Leben als Studentin in Ramallah zu zeigen. Sie studiert “english literature”. Ihr Berufswunsch ist, später einmal Übersetzerin zu werden. Sie spricht ein einwandfreies Englisch. Bemerkenswerterweise spricht fast so ziemlich jeder Palästinenser Englisch, mit wenigen Ausnahmen (Achtung: Privatempirie!). Wir haben uns um 9:30 an der Bushaltestelle verabredet. Und ohne gewusst zu haben, wie lang die Fahrt genau dauert, sind wir auch tatsächlich exakt zur vereinbarten Zeit an der Haltestelle. Aus dem Fenster erkenne ich Dalal auch recht schnell. Sie ist ein schlankes nicht kleines, aber auch nicht großes, hübsches Mädchen. Sie trägt die hier übliche Kopfbedeckung, den Hijab, was durch die westliche Jeans kontrastiert wird. Das fällt schnell auf, circa 80 Prozent der Mädchen tragen den Hijab (deutsche Schreibung: Hidschāb), die in meinen Augen sogar ziemlich schön aussehen kann (Deutlich besser als manch alberne Kopfbedeckung, die sich Mädels in Berlin ohne religiösen Hintergrund auf ihr Haupt setzten). Doch auch fällt auf, dass die Mädchen abgesehen von dem Hijab sehr westlich gekleidet sind. Hautenge Jeans und Oberteile scheinen hier toleriert zu werden. Manche Mädchen sind auch komplett westlich gekleidet ohne Anzeichen eines muslimischen oder arabischen Einflusses. Für die Jungen ist die Sache einfacher, diese sind fast ausnahmslos gekleidet wie ihr westliches Pendant. Nur bei den älteren Männern sind auch öfters einmal lange Bärte und traditionelle Kostüme und Kleidung zu sehen. Hier gibt es eine nette Übersicht, wie die Menschen denn so ticken und aussehen.

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Hier eine Studentin der Birzeit-Uni, mit dem dort dominierendem Hidschãb

Wir fahren mit dem “shared cab”, dessen Funktionsweise sich mir erst zum Ende meines Ramallah-Aufenthalts vollends erschließt. Dazu später mehr (Teasing? - Als ob solche billigen Hütchenspielertricks nötig hätte!). Wir fahren und fahren, die Uni liegt in einem Vorort Ramallahs: in Birzeit. Daher auch der Name “Birzeit university”. Die Uni, erklärt Dalal uns, ist die beste in ganz Palästina und man muss sich die anfallenden Studiengebühren auch erstmal leisten können.

Die Uni liegt inmitten der, mich komischerweise Iran assoziieren lassender, Berglandschaft. Nach dem Vorzeigen unserer Pässe, dürfen Pascal und ich den im gleißenden Sonnenschein erleuchteten Campus betreten. Es wuseln unzählige Studenten und Studentinnen über die Wege der Uni. Es gibt mehr Mädchen als Jungen. Die Jungen sehen ein wenig aus, wie man sich den Klischee-Hipster in Berlin ausmalt. Auch wenn es laut Dalal an der Uni einige ausländische Studenten gibt, sind es doch insgesamt nicht besonders viele, wie mich die Aufmerksamkeit, die uns zuteil kommt, vermuten lässt. Kaum haben wir uns ein wenig auf dem Campus umgesehen, den Kaffee — fragwürdiger Qualität — aus dem Automaten probiert, geht es auch schon mit der ersten Unterrichtsstunde los. Auf dem Stundenplan steht Philosophie. Natürlich auf Arabisch. Hier ist es so, dass die Studenten sich ein Fach auswählen können, aber dennoch verpflichtend Philosophie, Arabisch belegen müssen. Ähnlich, wie in Russland. Dafür gibt es in der Schule keinen Philosophieunterricht.

Apropos Unterricht: Ich verstehe kein Wort, ausser mal ein vereinzeltes “Kant” oder “Camus” oder auch ”Hitler” und “Stalin”. Worum es wohl in dieser Stunde genau ging, vermag ich nicht zu beurteilen. Als der Professor nun darauf aufmerksam wird, dass zwei neue Studenten in seiner Klasse sind und diese offensichtlich Ausländer sind, lächelt er freudig und fragt uns auf Englisch woher wir denn kämen. Der Professor möchte wissen, wie die Universitäten in Deutschland denn seien. Außerdem erläutert er uns, dass die Berzeit-Universität eine der liberalsten des Landes sein, ganz ander als etwa in Bethlehem (Gelächter in der Klasse) oder in Hebron (Erneut Heiterkeit in der Klasse). Hier könne man über alles sprechen, an anderen Universitäten wäre dies nicht möglich, da die Studenten dort aus Protest dem Professor bei kontroversen Prozessen den Rücken kehren würden. Nach einer Weile fährt der Professor wieder mit dem Unterricht fort.

Als der Unterricht zu Ende ist, teilt Dalal mit, dass die nächsten Klassen ausfallen. Daher setzen wir uns auf die Treppe vor der Fakultät und sprechen mit dort sitzenden Studenten. Pascal fängt wieder einmal eine Diskussion über die Existenz Gottes an. Ich spreche lieber über den Nahostkonflikt und dessen konkrete Auswirkungen auf den Alltag vor Ort. Was ich erfahre erschüttert mich und stimmt mich noch nachdenklicher als schon zuvor.

Von Mutasem, so heißt der Student, erfahre ich, dass er ursprünglich aus Hebron stammt. Da ich mit Hebron in erster Linie die unangenehme Begegnung mit den dortigen Soldaten assoziiere, frage ich gleich, ob er schon eine Begegnung dieser Art hatte. Er lacht bloß amüsiert: “Of course”. Er berichtet, dass er schon einmal gesehen hat, wie ein Palästinensischer Jugendlicher angeschossen wurde. Ungläubig schaue ich Mutasem an und will genaueres erfahren. Der Jugendliche wohnte nahe der Siedlungsgrenze in einem der Häuser, die die Siedler den palästinensischen Besitzern abkaufen wollen. Der Jugendliche saß in einem Stuhl vor dem Haus als eine Gruppe bewaffneter Siedler in das palästinensische Gebiet kam. Irgendwie kam es zu einem Streit zwischen den Siedlern und dem Jugendlichen, der in einem Handgemenge gipfelte. Dann fiel plötzlich ein Schuss. Einer der Siedler hatte dem Jungendlichen ins Bein geschossen. Daraufhin kamen israelische Soldaten, die den Streit auflöste und die Siedler wieder ins Siedlungsgebiete eskortierten. Den Jugendlichen ließ man mit seiner Schussverletzung zurück. Zum Glück riefen dessen Eltern anschließend den Notarzt. Es komme öfters vor, dass eine Gruppe bewaffneter Siedler sich durch palästinensisches Gebiet bewege. Kein palästinensischer Polizist traue sich, einem Siedler auch nur ein Haar zu krümmen. Wenn ein Siedler Gewalttätig wird, rufen die palästinensischen Sicherheitskräfte lediglich den israelischen Kommandeur an, damit diese Soldaten schickt, die den Siedler zurückbringen. Dies alles erklärt Mutasem mir, natürlich kann ich diese Aussagen nicht alle auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, aber ich vertraue Methusalem, er macht einen vertrauenswürdigen und ehrlichen Eindruck. Mich überrascht, wie ruhig und distanziert er über diese Dinge sprechen kann.

Ich könnte noch ewig mit ihm weiter über den Nahostkonflikt sprechen, doch Mutasem muss zum Unterricht. Immerhin kommen wir so hernach in den Genuss des hiesigen Mensaessens, dass wahrhaftig nicht schlecht ist. Gut, von meiner Uni habe ich eine gewisse Anspruchslosigkeit über die Semester mit auf den Weg bekommen. Die Uni inmitten der bergigen iranesken Landschaft (klingt doof, Adjektivalternativvorschläge werden dankbar entgegengenommen). Danach sehen wir uns den Campus an: Zuerst gehen wir, ich bin nicht ganz unbeteiligt an dieser Wahl, in die Informatik-Fakultät der Birzeit-Universität. Die Fakultäten sehen hier architektonisch zumeist gleich aus. Diese Einhelligkeit, die in Deutschland eher nicht gegeben ist, spiegelt sich auch bei den Studenten wieder. Natürlich ist mein Auge noch nicht so geschult, wie das eines Einheimischen, dennoch versteige ich mich mal zu der These, dass die Studenten hier recht uniform, ja allesamt westlich, gekleidet sind. Mit ihren breitrandigen Brillen vermag ich den Vergleich mit dem Berliner Klischee-Hipster nicht von der Hand zu weisen. An meiner Universität sind in der Informatikfakultät eindeutige Nerd-Attribute auch an der Kleidung zu finden. Hier in Ramallah scheint der Kontakt zu “Hacker- und Nerdkultur”, wie sie sich in Deutschland und Amerika herausgebildet hat, nicht vorhanden zu sein. Dennoch gibt es in der Fakultät viele Studenten und Studentinnen, das Geschlechterverhältnis ist in etwa gleich. Insgesamt, gäbe es jedoch mehr Studentinnen, verrät mir Dalal. In der Fakultät gibt es neben älteren, aber immerhin nicht hochbetagten Computern, auch ein Labor für Projekte mit Quadrokoptern. Ob diese auch so hinreissend atemberaubende Manövrierfähigkeiten, wie die der ETH-Zürich, haben, sei dahingestellt. Nichtsdestoweniger hätte ich so etwas nicht erwartet.

Neben ein paar anderen Fakultäten begehen wir noch die Hauptmensa, in der es, wie allenthalben in der Westbank, eine Unmenge an Süßigkeiten zu kaufen gibt. Auch einen eigenen Crepés-Stand kann die Unimensa ihr eigen nennen. Neben spaßigen Details, wie dem Arafat-Poster hinter dem Saftstand, wartet die studentische Zusammensetzung mit einigen Überraschungen auf: Ziemlich alle Studenten sind arabisch, weshalb ich und Pascal auch einige neugierige Blicke bemerken. Das Gros der Studenten ist weiblich und trägt den Hijab, der männliche Teil trägt ausnahmslos Jeans oder Chinohosen in Kombination mit Hemd, T-Shirt oder Pullover. Bei den Studentinnen gibt es frappierende Erscheinungsformen, wie die hijabtragende Studentin, die es sich nicht verbieten lässt mit einer den Propheten sicherlich wenig begeisternden Leggins durch die Mensa zu stolzieren. Oder auch die Studentinnen die zumindest äußerlich jegliche Verbindung zu ihren muslimischen Wurzeln abgelegt haben und ohne den Hijab und mit einem Kleidungsstil, wie man ihn eins zu eins in der “Glamour” oder dem ”Peek & Kloppenburg”-Katalog wiederfinden würde. Dies sieht man sonst in der Westbank nicht, Ramallah ist eben liberaler als der Rest des Landes.

Am Abend schickt Dalal mich und Pascal zu einer Veranstaltung des studentischen Umweltclubs der Universität. Dies für sich genommen ist schon bemerkenswert, ich hätte gedacht, dass Umweltprobleme in einer konfliktreichen Umgebung, wie dieser, eher nachrangig behandelt werden. Mindestens genauso bemerkenswert ist der Live-Auftritt eines Ingenieur-Masterabsolventen, der daneben auch noch Rapper ist. Sein Rhythmusgefühl und die arabische Sprache lassen mich trotz Sprachbarriere vor der Wortgewaltigkeit und Ausdruckskraft ehrfürchtig den Hut ziehen. Nachzuhören, wenn auch weniger emotional und aggressiv, sind ILL PAZ Werke hier.


Fortsetzung folgt…