Palästina bzw. völkerrechtlich korrekter: Westbank - die andere Seite
Nach zwei Nächten in einem Hostel in Jerusalem, weil die Hosts von Couchsurfing leider absagen mussten ging es dann tatsächlich für mich zum ersten mal in die Westbank. Und zwar nach Bethlehem. Was ich als recht naiver und zugegebenermaßen uninformierten erwartete, waren ein paar christliche Heiligtümer und eine vielleicht auch noch reizvolle Berglandschaft. Was ich dann aber tatsächlich zu Gesicht bekam, hatte ich nicht erwartet. Unter anderem zählte eine im wortwörtlichsten Sinne reizende Begegnung mit Tränengas zu den Erfahrungen des Tages, die ich - neben vielen anderen - mitnehmen durfte. Eine der unangenehmeren, wie man sagen muss. Die konkrete und und nicht glanzvolle Realität des Konflikts im Nahen Osten, der seit einem halben Jahrhundert besteht, bisweilen nur als glimmenden Glut, dann aber auch wieder als blutrot lodernde Flamme, die unzählige Opfer forderte und nur schwer - und völlig schon gar nicht - zu löschen ist.
Von einer Reise in die Westbank rieten mir in Israel viele ab, andere ermunterten mich hingegen mich auch dort einmal umzusehen. Bei Gesprächen mit Israelis in ungefähr meinem Alter kam erstaunlich oft, wenn ich sie nach der Westbank fragte, die Antwort sie seien bereits dort gewesen. In den allermeisten Fällen als Soldaten der IDF (Israeli Defense Force). Bethlehem wurde von den meisten - weil touristisch erschlossen - als unbedenklich eingestuft. Bei Ramallah rieten schon mehr von einem Besuch ab. Die Begründung lautete, dass es nachts Operationen der IDF gibt, die der Verhaftung palästinensischer Terroristen dient. Zudem gebe es eine Minderheit extrem radikaler und fanatischer Kräfte, die so irrationale Gedanken hegen, dass ihnen alle zugetraut werden muss. Selbst Anschläge oder Entführungen von Nicht-Israelis seien von solchen Kräften zu erwarten.
Nun ja, deshalb ging es - eigentlich mehr dem Zufall geschuldet - erstmal nach Bethlehem, wo ich - wie bereits erwähnt - ein pittoreskes Glaubens-Disneyland für einfältige Touristen erwartete. In Jerusalem traf ich während einer Kneipen-Tour einen Schweizer - den Pascal -, der auch in die Westbank wollte und schließlich beschlossen wir gemeinsam nach Bethlehem und hernach nach Ramallah zu fahren. Er hatte so wie ich die erste Hälfte seiner Zeit in Israel verbracht und war nun neugierig auf die andere Seite geworden. Eine Reise nach Israel, die nicht politisch ist, wäre ein wenig so, wie mit dem Flugzeug zu fliegen, den ganzen Flug über die Augen zu verschließen und zu ignorieren, dass man sich auf 10.000 Metern Höhe befindet. Dann darf man sich nachher auch nicht wundern, dass man nicht versteht, was das Ruckeln und Wackeln zu bedeuten hat, wenn es plötzlich jäh in die eigene kleine Blase einzubrechen droht.
Wie auch immer. Auf jeden Fall beginnt die Reise gegen Zwölf am Damaskustor in Jerusalem, wo die Busse der arabischen Busfirmen abfahren. Die Fahrt kostet grade 8 Schekel und bringt einen in circa 30 Minuten nach Betlehem. Die Fahrt über die Grenze verläuft als würde man von Deutschland in die Niederlande fahren. Abgesehen von streckenweise Mauerstreifenversatzstücken und einer Grenzkontrolle, die beim Verlassen Israels jedoch nicht zum Tragen kommt. Irgendwann merkt man, dass die Menschen in den Städten keine Kippa oder jüdisch-orthodoxe Tracht mehr tragen und die Beschilderung der Läden vollkommen arabisch ist. Die jüdisch-orthodoxen werden hier im Straßenbild nahtlos durch die muslimischen Gelehrten und Muhezine - die mit nicht minder auffälliger Tracht aufwarten - ersetzt. Irgendwann sind wir dann plötzlich in Betlehem.
An der Bushaltestelle werden wir von Taxifahrern umworben als währen wir vogelfrei. Anscheinend machten wir einen zu touristischen Eindruck. Am Ende fanden wir einen Taxifahrer, der nicht nur wie ein arabischer “Bruce Willis”-Verschnitt aussah, sondern uns auch eine Rundfahrt zu einem horrenden Preis aufschwatzen wollte. Erfolglos, wie ich festhalten möchte! Das Hostel in dem wir nächtigten heißt “Peace Hostel” und ist absolut uneingeschränkt weiterzuempfehlen. Das Hostel ist im Wohnhaus einer lokalen Familie untergebracht und wird von ihnen betrieben, was dazu führt, dass man sich schnell sehr heimisch fühlt. Die Familie ist - wie viele in Betlehem - christlich. Noch erstaunlicher ist, dass der Chef deutsch spricht, weil er dies in einer lutherischen Bibelschule gelernt hat. Religiösität hat hier in der Familie einen hohen Stellenwert. Die Preise sind auch fair und fallen mit 70 Schekel die Nacht überschaubar aus.
Nach dem wir uns eingerichtet haben, beschließen Pascal et moí uns in die Stadt zu begeben, um etwas von Betlehem zu sehen und mindestens genauso wichtig: ausschweifend zu schlemmen und uns mit den lokalen Spezialitäten zu verköstigen. Gesagt getan, lokale kulinarische Kleinode, wie etwa das Humous, die Falafel und Salate, sind die Reise allein schon wert, wie wir beide konstatieren mussten. Anschließenden irrten äh liefen wir eine ganze Weile ziellos durch die Stadt, bis wir irgendwann die touristischen Viertel hinter uns ließen und dafür zwar öfters voll Skepsis beäugt wurden, aber so auch einmal die größtenteils authentische Atmosphäre des Ortes erspüren konnten. Die touristisch hochfrequentierten Orte schienen tatsächlich mehr ein Zerrbild des restlichen Betlehem zu sein, das meiner Disneyland-Vorstellung schon nahe kam. Allein schon, weil einen nicht jeder Händler und Taxifahrer von der Seite anpimmelt, nur weil man als Nicht-Einsässiger scheinbar für einige für Vogelfrei erklärt ist. Am Anfang ist es ja noch ganz unterhaltsam und eine nette Herausforderung übergriffig-aufdringliche Verkaufsangebote jedweder Art abzuwimmeln, mit der Zeit wird es allerdings immer mehr zum lästigen Erinnerung daran, dass man nicht dazugehört, dass man in den Augen mancher der dumme Tourist ist, der um sein Geld erleichtert werden will. Ist man hingegen in den Vierteln, wo nur noch Araber unterwegs sind entfällt dieses unangenehme Phänomen vollends.
Nach einer Weile bummeln durch die Stadt, wollen wir zur Grenzmauer, deren Besuch uns der verkaufsfräudige Taxifahrer unter Anderem aufschwatzen wollte. Wir hatten erst einmal genug von der Stadt gesehen, auch wenn sie neben historischer, wunderschöner und schlicht verkommener Architektur vom orientalischen Gemüsemarkt - wie aus einem Film kopiert - bis hin zu den - von Händlern gesäumten - engen, verschlungenen Gassen, einiges zu bieten hat. Also nahmen wir ein Taxi, handelten erst einmal den Preis auf ein nur noch zu hohes Niveau (statt viel zu hohes) hinunter und ließen uns an die Mauer bringen. Das kolossale Bauwerk mit einer Höhe von gut eineinhalb dutzend Metern Höhe bietet der Berliner Mauer mühelos Paroli. Die Mauer ist auf großen Teilen des Verlaufes mit Grafittibemalung übersäht. Vom lakonischen Halbsatz bis hin zu Großzeichnungen, die den Betrachter mit ihren emotionalen Motiven und ihrer eindrücklichen Ästhetik fesseln und in den Bann ziehen.
Nach einer Weile des von Motiv zu Motiv wechselnd treffen wir auf einen Herrn mittleren Alters mit einer Kamera. Er spricht uns an und erklärt, dass er in Hebron wohnt und jeden Donnerstag nach Betlehem kommt, um zu schauen, wie sich die Lage hier verändert hat. Er bietet uns an, uns ein wenig herumzuführen. Wir nehmen das Angebot dankend an. Wir erfahren, dass Bazaam Physik- und Mathematik-Lehrer ist und uns interessante Stellen an der Mauer, den Checkpoint nach Jerusalem und zwei Flüchtlingscamps zeigen will. Als erstes wandern wir eine Weile an der Mauer entlang, die mit ihren Wachtürmen das Gefühl, Insasse einer Hochsicherheitsgefängnisses zu sein, hervorruft. Irgendwann kommen wir an einer besonderen Stelle der Mauer an: Hier ist ein Haus an drei Seiten von der Mauer umschlossen. Bazaam erklärt, das die Israelis das Land an dieser Stelle wollten, weil hier ein für sie religiös bedeutsamer Ort ist. Weil man wohl doch Skrupel hatte, das Haus abzureißen, baute man die Mauer einfach drumherum. Der Besitzer - Hamid - betreibt darin nun das Hostel mit dem zynischen Namen “Hostel at the wall” und verkauft Souvenirs in einem ebenfalls dem Haus angegliederten Laden. Dort bekommen wir die Gelegenheit mit ihm zu spreche. So erfahren wir, dass der Bau der Mauer nur 3 Monate dauerte und, dass die israelische Regierung sein Haus kaufen möchte, er aber die Angebote ablehnt. Er ist hier aus Prinzip sagt er, er könne auch nicht woanders hinziehen, dann würde das Haus auch abgerissen und die Aussparung für das Haus in der Mauerführung geschlossen. Weiter erklärt er, wie der Mauerbau seine Familie gespalten hat: Sein Vater wohnt 400m Luftlinie von ihm, aber weil die Mauer das Haus des Vaters abtrennt, kommt Hamid nur zwei mal im Jahr dazu seinen Vater zu besuchen. Es sei den Palästinensern, nur zwei mal im Jahr gestattet die Grenze zu passieren. Man müsse Anträge stellen. Wer hingegen einer Arbeit in Jerusalem nachgehe bekomme eine Sondererlaubnis erklärt Hamid. Das Thema regt ihn sichtlich auf. “They don’t want us, because they think we are terrorists” entgegnet Hamid aufgebracht. An einer Stelle der, die das Haus umschließenden Mauer, kann man durch eine Ritze in der verrutschten Mauernut wieso das Land so wichtig war, dass man dafür eine so absurde Mauerführung in Kauf nahm. Durch die Ritze kann man einige Männer ausmachen, die - sich verneigend - dem Gebet nachgehen. Religiöse Freiheit für die einen, Bewegungsunfreiheit für den anderen.
Anschließend gehen wir zum Checkpoint, auf dem Weg kommen wir an einem riesigen Tor vorbei, dass in seiner Mauerhöhe absurd groß aussieht und ist. Solche Riesentore kannte ich bisher nur aus Spielfilmen. “That’s where they come out with their tanks and jeeps” erklärt Hamid. Am Checkpoint angelangt bin ich wiederum positiv überrascht. Vor dem Checkpoint haben sich Gemüsehändler niedergelassen und verkaufen Waren an die zum Feierabend nach Betlehem zurückkehrenden Palästinenser. Der Checkpoint dezimiert - wie die massive Mauer auch - das Gefühl der eigenen Freiheit auf bedrückende Weise. Durch einen langen vergitterten Gang gelangt man zu einem Durchlass in der Mauer, wo sich ein kleines Kontrollhäuschen, wie die Passkontrolle am Flughafen - befindet. In dem Häuschen versieht ein junger, sympathisch wirkender - vielleicht 18-Jähriger - Israeli seien Dienst. Als wir uns schließlich auf dem Weg zum Flüchtlingscamp AIDA machen, erklärt uns Hamid, dass er die Intifada hier miterlebt hat und dass er damals einen ganz normalen Alltag erlebt hat, es gab lediglich mehr Checkpoints und Kontrollen durch die IDF.
Zynischerweise muss man das pompös-protzige Grand Hyatt Bethlehem passieren, um in das Flüchtlingscamp AIDA zu gelangen. Auf dem Weg übersetzt und Hamid einige Graffitis, die allesamt barbarische Absichten Israelis gegenüber zum Ausdruck bringen. So lautet ein Graffiti etwa: “Tot für die Getöteten”, was eine klarer Aufruf Rachegelüsten freien lauf zu lassen, den ich nun für völlig falsch halte. Gleichzeitig geben diese Graffitis auch Aufschluss über die Gemütslage der hier lebenden Menschen. Es sind hauptsächlich aus Israel vertriebene Palästinenser, die in diese Camps ziehen mussten. Die Camps stehen unter Aufsicht der UN, wobei die IDF hier auch patrouilliert. Der Grund und Boden gehört ebenfalls der UN. Als wir bei den ersten Häusern des Camps sind, hält ein uns entgegenkommender Kleinbus und der Fahrer warnt vor “Israeli soldiers are around the corner. They are using tear gas” (Wie Hamid uns übersetzt). Wir gehen vorsichtig weiter, als nicht unweit dumpfe Explosionen hörbar werden und wir im Dunkel der Nacht Blaulicht und Soldaten in Schutzmontur erblicken fährt mir ein kalter Schauer über den Rücken, so unmittelbar bin ich noch nie Zeuge von der Ausübung von Staatsgewalt geworden.
Hamid vermutet, dass Jugendliche wieder Steine werfen und sich eine Schlacht mit der IDF liefern. In den letzten Wochen sei es wieder verstärkt zu Spannungen gekommen. Wir biegen eine Straße vor der ab, an dem die Soldaten in Deckung hinter ihrem Auto versuchen die Lage in den Griff zu bekommen. Dort begegnen wir einer Muslima die fragt “How many soldiers are there? Are there many soldiers?”. Sie macht dabei einen besorgten Gesichtsausdruck wird dann aber entspannter als Hamid erklärt: “Just a few.”. Nicht hektisch aber geschwind geht sie in das Haus einige Meter weiter. Sie wohnt hier schon immer erklärt Hamid. Wir gehen weiter die Straße entlang, die Häuser stehen so eng im Spalier, dass es vielmehr eine Gasse ist.
Schon nach kurzer Zeit kommt uns eine Gruppe junger Mädchen entgegen, die sich den Mund mit Hand und Pullovern bedecken. Leicht irritiert frage ich mich, was sie damit bezwecken, als ich eine beißendes Brennen an Augen und Mund bemerke. Es ist das Tränengas, dass hier verschossen wird. Die Intensität des Brennens nimmt zu, daher beschließen wir kehrt zu machen und in ein anderes Flüchtlingscamp zu gehen.
Fortsetzung folgt später, wenn ich genug Zeit habe, auch mit dem Teil zu Israel, der schon fast fertig ist…