Heute darf ich an die Uni und eine Vorlesung von einem Harvard Professor besuchen, der als Gastdozent eine Vorlesung über die Arktis und die Antarktis hält. Am Morgen treffe ich Ira und sie führt mich durch die Uni und erklärt mir die verschiedenen Fakultäten. Die Uni ist nicht mit einer deutschen Universität vergleichbar: Die Wände und Fußböden sind schief und überhaupt hat das Gebäude seine besten Tage schon hinter sich. Im Treppenhaus treffen wir zufällig Sascha, der ebenso spontan beschließt seinen Deutschunterricht zu schwänzen. Gegen 9 stößt noch Anaida zur Gruppe hinzu und wir gehen in die Uni-Mensa, die erstaunlich klein ist, aber dafür hervorragendes Essen zubereitet. Mir fällt auf, dass das Besteck aus Aluminium statt aus Edelstahl ist.

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Diese nette “babuschka” hat mich als “mein Sohn” und mich gleich darauf als dumm bezeichnet

Nach dem Essen gehen wir in den großen Vorlesungssaal, um der genannten Vorlesung beizuwohnen. Der Professor erzählt von seinen Tauchgängen in Arktis und Antarktis, jedoch vermochte er nicht wirklich zu fesseln. Möglicherweise lag es daran, dass alles was er erzählte, von einer Englischprofessorin der Universität, teilweise ausgesprochen holprig, übersetzt wurde. Dennoch war es interessant, rechtliche, historische, ökologische und geologische Details über Arktis und Antarktis zu erfahren.

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Da ist der gute Mann, der laut eigener Aussage immerhin fast einem fleischfressenden Seehund anheimgefallen wäre

Nach der Vorlesung um 13 Uhr ist Unterrichtsschluss und Anaida schlägt vor, eine Rundfahrt mit der Straßenbahn durch Ulan-Ude zu machen. Wir treffen noch Oyuna und Lisa in einem Park neben der Uni und nehmen dann eine der in meiner Vorstellung rostzerfressenen Straßenbahnen. Auf der Fahrt wird hauptsächlich in Russisch gesprochen, klar: Es wäre schon seltsam, wenn 5 Freunde untereinander Englisch sprechen um auf einen Auswärtigen Rücksicht zu nehmen. Ab und zu erklären Sascha, Oyuna und Anaida etwas, wie z.B. einen Haltestellennamen oder, dass gegenüber die Akademie der Künste zu sehen ist. Wir fahren bis zur Endstation. Anschließend gehen wir an sozialistischen und postsozialistischen Bauten vorbei bis zu einem scheinbaren Spielplatz, der sich jedoch als Sportstätte für Senioren entpuppt, wie ich sie bisher nur aus China kannte. Wir probieren uns an den Geräten.

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Dann fahren wir wieder in die Innenstadt und gehen zum Zweck der Nahrungsaufnahme in ein Lokal. Dort versuchen sich Oyuna, Anaida, Ira und Sascha daran, mir einige russische Wörter beizubringen. Immerhin behalte ich einigermaßen wie man bis 10 zählt. Ich nehme mir fest vor an der Uni in Deutschland einen Russischkurs zu belegen. Im Anschluss gehen wir in einen Freizeitpark, der - dem Auge nach - noch sozialistischen Zeiten zu entstammen scheint. Als eher risikounfreudiger Mensch sträubt es sich in mir. Ich auf eines dieser Geräte? Ohne deutschen TÜV? Im russischen Buryatien? Schließlich lasse ich mir doch noch gut zureden; auch, weil Oyuna nicht allein auf ein, ich nenne es einmal Erwachsenenkarussel, möchte. Ich setzte mich also dazu und staune nicht schlecht: Trotz des fortgeschrittenen Alters vermochte das Gerät so einiges an Flieh- und Zugkräften zu mobilisieren. Genug um meinen Nerven doch so einige seltsame Zustandssignale zu entlocken, welche schließlich in einem mittellauten Fluchen meinerseits resultierten. Nach der Fahrt steige ich mit einem mulmigen Gefühl wieder auf den Boden, um gleich zu realisieren: Das beste kommt erst noch! Die 30 Jahre alte Schiffsschaukel mit ihrem ausgemergelten Charme und ihrer knochigen Anmut wartet noch. Ich war noch nie auf einer Schiffsschaukel, aber ich erkenne gleich, dass die Schiffsschaukeln, die ich schon mal gesehen habe, nicht - wie es hier der Fall ist - an einem eher streichholzartigen Gerüst hängen. Es kostet mich einiges an Überwindung mich in das teuflische Monstrum zu begeben, gerade, weil Sascha mir mitteilt, dass das gute Stück einen 90-Grad-Winkel erreicht. Ein Irtuum, wie sich später herausstellen sollte, jedoch keiner zu meinen Gunsten. Die neben mir sitzende Oyuna scheint sich der Sache auch nicht mehr so sicher zu sein, was mir unter anderem die gehaltvolle Aussage entlockt “I don’t want to die immediatly”. Der abgefuckt dreinblickende Mann, der die unterschiedlichen Gefährte im Park bedient, kommt. Er bedient sie alle, daher muss man immer auf den Mann mit der Sonnenbrille und der Kippe zwischen den Zähnen warten. Als also jener Mann kommt, verkrampfe ich leicht: Jetzt wird es ernst. Es gibt keine Abbruchmöglichkeit. In diesem Moment denke ich nur eines: “Scheiße!“; vielleicht nicht das Wort, aber zum Mindestens die Bedeutung dahinter. Die Elektromotoren fangen an sich zu drehen, die Gummireifen sirren in der Luft und mit jeder Bewegung der Schiffsschaukel erhöht sich der Umkehrpunkt ein wenig. Plötzlich spüre ich die Beschleunigungskräfte und sie werden immer stärker bis zu einem Punkt an dem ich mich so elend fühle, dass mir nichts besseres einfällt als laut “fuck” zu schreien. Ich merke, wie dieser Ausruf etwas befreiendes und auch milderndes hat. Aus diesem Grund bot sich dem Beobachter am Boden in den währenden knapp Sechzig Sekunden ein lautreiches Spektakel: “Fuck!Fuck!Fucking fuck!”. Ich glaube, dass ich noch nie in meinem Leben eine solche Angst hatte. Sogar physische Auswirkungen machen sich bemerkbar. Jedesmal am Totpunkt zittert mein rechtes Bein ohne mein Zutun und ich frage mich wie lange dieser Höllenritt noch dauert. Hinterher erfahre ich, dass die besagte Schiffsschaukel offenbar die 90-Grad-Marke mühelos überwunden hatte und in noch luftigere Höhen aufstieg. Trotz meines Adrenalinpegels, der Charlie Sheens Alkoholpegel an einem Montag mühelos harmlos scheinen lässt, bemerke ich noch, wie am Boden, ob meiner martialischen Verfluchungen, sichtlich Erstaunen herrscht. Jedenfalls, wenn man Mr. “I don’t give a fuck” ausnimmt. Er dürfte wahrscheinlich schon Menschen auf den Attraktionen des Parks sterben sehen haben, insofern hat ihn mein mimosenhafter Auftritt sicherlich nicht sonderlich imponiert. Ich frage mich auch, wie Oyuna und Yana, die neben mir saßen, so ruhig bleiben konnten. Kurz vor Ende habe ich auch aufgehört zu schreien. Man sagt ja bekanntlich beim Rettungsschwimmen sind nicht die Menschen ernsthaft in Lebensgefahr, die am lautesten schreien, sondern die, die ganz ruhig sind. Als ich spüre, dass die Schiffsschaukel abgebremst wird bin ich erleichtert wie schon lange nicht mehr. Ich glaube ich hatte noch nie in meinem Leben eine solche Angst und ich war auch noch nie in meinem Leben so erleichtert. Ich freue mich am Leben zu sein und betrete zittrig den festen Boden. Meine Begleiterinnen scheinen die Fahrt auch verkraftet zu haben. Jedenfalls leiern sie gleich einen Photoshoot an, der die folgenden Ergebnisse zeitigt:

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Ach hätte ich nur die Fotogenität von Sascha!

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Blick von der Höllenmaschine

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Blick auf die Höllenmaschine. Nicht zu sehen: panische Schreie