Zeitsprung: Donnerstag 12. September 12 Uhr. Ich sitze in meinem Zimmer und versuche mir verzweifelt ein Thema auszudenken. Nach vielen Missschlägen, sehe ich auf die Uhr und beginne zu realisieren, dass mir nichts außergewöhnliches einfallen wird. Also beschließe ich, für den Fall, dass die Frage-Antwort-Stunde nicht trägt eine Bundestagsrede von Gregor Gysi zu zeigen und auf dieser Basis über Politikersprache zu sprechen. Also packe ich mein MacBook in die Tasche und sehe einmal mehr auf die Uhr, mit dem Ergebnis, dass mich eine Panikwelle erfasst: 15 Minuten vor 13 Uhr! Ich haste notgedrungen aus der Wohnung in Richtung Innenstadt, wo die Deutschfakultät angesiedelt ist. Grade noch pünktlich angekommen werde ich auch schon von der studentischen Hilfskraft Victoria in den Raum gebeten, wo ich mein Seminar halten soll. Doch oh weh, um welchen Preis habe ich die Pünktlichkeit eingehalten, ich merke wie mir die Schweißtropfen von der Stirn rinnen. In der Hoffnung, dass es wenigstens nicht allzu viele Studenten sind, betrete ich erwartungsvoll den Raum. Doch dieser ist komplett gefüllt. Ich habe noch nie vor so vielen Menschen gesprochen, bin nicht im klassischen Sinne vorbereitet und bin grade 15 Minuten zur Uni gesprintet. Wenigstens wird meiner Bitte um ein Wasser genüge getan, sodass ich wenigstens nicht dehydriere. Ich blicke in schätzungsweise 30 neugierige, einige apathische und sehr wenige antipathische Augenpaare (zumindest behaupte ich das einfach mal im Nachhinein, weil es spannender klingt).

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Ich beginne mit einer Begrüßung, schreibe meinen Namen an die Tafel, erzähle etwas über mich und rede ab da an ohne Unterlass und Ziel. Zuerst spreche ich Deutsch, als ich erfahre, dass viele Studenten Englischstudenten sind spreche ich in Englisch weiter. Doch nach 5 Minuten erklärt mir Victoria, dass ich besser in Deutsch weitersprechen sollte, da die Studenten einen deutschen Muttersprachler hören sollen. Ich habe zwar den begründeten Verdacht, dass Deutsch deutlich schlechter verstanden wird, aber ich befolge die Bitte selbstverständlich. Ich stelle Fragen an die Gruppe, was natürlich immer schwer ist, wenn sich konkret nur selten Studenten angesprochen fühlen. Aber immerhin antworten vereinzelt Studenten (meist sind es dieselben, wie man es aus der Schule kennt) und stellen auch Fragen wie: “Wo lebst du?”, “Was ist der Unterschied zwischen Russland und Deutschland?”, “Wie ist es für dich hier zu stehen?” (Ja, das ist eindeutig eine Metafrage), “Wie lange bleibst du in Ulan-Ude”, “Was sind deine Hobbys?”, “Was hast du hier vor?” usw.. Diese Fragen habe ich alle nach bestem Wissen und Gewissen beflissen abgearbeitet, es wurde sogar kurz pathetisch als ich auf die Frage “Warum studierst du Physik?” antworte: “Ich möchte die Welt und das Universum verstehen und ich denke Physik hilft dabei.”. Dass ich gleich darauf frage: “Und warum studiert ihr Deutsch?” war sicher auch missverständlich aufgefasst etwas ostentativ. Ansonsten habe ich den Studenten noch das Bachelorsystem mit seiner Modularisierung erklärt und dabei erfahren, dass das Studium an der buryatischen Universität stärker verschult ist, auch wenn dies bereits oft und lautstark an den deutschen Unis beklagt wird. Im ersten Jahr müssen die Studenten verpflichtend Fächer, wie Philosophie, Mathematik, Geschichte und mehr besuchen, aber die Studenten beginnen auch in der Regel das Studium schon mit 17. Ich hätte zu gerne eine Aufnahme meiner mehr unter Improvisationsperformance zu rubrizierende Vorstellung gesehen um mir einen Eindruck davon verschaffen zu können. Immerhin schrieb eine Studentin später in einer Mail “Thank you for your class, it was very interesting and informative.”, was natürlich auch einem Mitleidsbonus zuzuschreiben sein könnte, da ich an dem Anschließen meines MacBooks an den Beamer ungefähr 10 Minuten gescheitert bin und anschließend bin ich gleich noch einmal 10 Minuten daran gescheitert den Computer im Raum dazu zu bringen auf Bundestag.de das genannte Gysi-Video abzuspielen. Daher blieb es für den Rest der Stunde beim Frage-Antwort-Format. Dazu kann ich noch anfügen, dass nachher ein Student, namens Sascha, meinte, dass er froh gewesen sei, dass ich das Video nicht zeigen konnte, da er Politik langweilig finde. Am Ende der Stunde bin ich froh und ein wenig stolz, dass ich doch zum Mindesten die Mehrheit der Studenten zu einem gewissen Grad belustigen konnte. Irgendwie tut es mir auch leid, als ich erfahre, dass die meisten Studenten trotz Unterrichtsschluss dageblieben sind um mein “Seminar” zu besuchen.

Nach der Stunde kommen dann noch ein paar Studentinnen zu mir um meine Telefonnummer zu erfragen, welche ich natürlich nicht zurückhalte. Auch ein Foto wollen die Studentinnen - und ich merke wieder einmal mehr, dass ich den Begriff Fotogenität nur geringfügig mit Leben fülle.

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Nein, diese Bilder enstanden nicht kurz nachdem ich erfahren habe, dass mein Hamster gestorben ist. 

Schließlich gehe ich mit Nastya und Sascha in ein Lokal nahe der Uni. Dort ruft mich dann plötzlich und aus heiterem Himmel Anaida, die ich bei Couchsurfing.org angeschrieben habe, an und sagt sie würde in einer Viertelstunde mit ihrer Freundin Yana, bei der ich unterkommen kann, vorbeikommen. Nach einem kurzen Kennenlernen fahren wir zusammen mit Sascha zu der mit dem Bus 20 Minuten von der Innenstadt gelegen Wohnung Yanas. Ihre Eltern haben ihr eine der Wohnungen in einem ganz neuem Häuserblock gekauft. Die Wohnung ist nagelneu, dennoch sind bereits leichte Risse an den Wänden und Decken zu sehen. Dies ist dem Umstand zu schulden, dass neuen Häuser allesamt von Chinesen gebaut werden, wie ich später erfahren sollte. Wir essen etwas in der Wohnung reden ein wenig, wobei ich doch noch etwas umentspannt bin, was ich daran festmachen kann, dass ich im Gespräch mit Anaida - zum Kennenlernen - völlig absurde Fragen, wie: “Gibt es hier in der Nähe Ärzte” stelle. Nach ein wenig mehr Unterhaltung, gehen Anaida und Sascha und ich darf es mir auf einer Decke auf dem Boden gemütlich machen. Auch wenn es Couchsurfing heißt, gibt’s nicht immer eine Couch.

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Blick aus der Wohnung Yanas